Mittwoch, 23. März 2011

Widder und Waage im Fabelreich

 Guido Bonatus de Forlinio, Liber astronomicus, decem continens tractatus Astronomiae (1491), © Bibliothek der Benediktinerabtei Metten

Belehrung im Fabelland

Ein Weiser wanderte durch das Fabelreich, begleitet von einem Törichten, der ein Weiser werden wollte. Sie sahen viele merkwürdige Dinge, bis sie irgendwo einmal einen ganz alltäglichen Erdengegenstand antrafen. Da hing so mir nichts dir nichts an einem Baum eine kupferne Hängewaage, die dauernd in schaukelnder Bewegung war. Das kam dem Törichten nun doch reichlich merkwürdig vor. Warum wurde so ein altes klappriges Ding in einem so schönen Reich aufbewahrt? Er glaubte bemerken zu müssen, daß es doch zumindest recht eigenartige Menschen gewesen sein müßten, die solch einer Waage einstmals sogar einen Platz am Himmel zugewiesen hatten. Der Weise sagte jedoch: „Einen Platz am Himmel verdient jeder, der den Himmel auf die Erde bringt. Was du für einen alten Metalltrödel hältst, ist der Träger geheimster Sternengesetze. Solange die Waage still hängt, ist sie nichts als ein bißchen Metall, sobald sie sich aber bewegt, ist sie ein Mittelpunkt der ganzen Welt. Die Erde und das Weltall helfen ihr, sich zu bewegen. Ja, sogar die Sonne und die Planeten gehorchen ihren Gesetzen. Wir wollen einmal abwarten, was geschehen wird; ich denke, daß wir noch allerlei erleben werden."

Sie ließen sich in das Gras nieder und behielten die Waage gut im Auge. Da erschien ein edler Widder mit trotzig erhobenem Kopf, ein wahres Wundertier! Goldener Glanz umstrahlte das weiße Fell, die schön geschwungenen Hörner schienen aus massivem Gold gegossen. Der Törichte äußerte feurig seine Begeisterung: ja, das war doch wenigstens ein echtes Fabeltier! Der Weise aber riet ihm, mit seiner Begeisterung noch eine Weile zu warten.

Da sah der Widder die Waage, die noch immer auf und nieder schwankte. Sie hörten den Widder murmeln: „Wozu ist das Gebammel gut? Wenn ein Widder sich bewegt, so geht er vorwärts, und lieber mitten durch als dran vorbei. Das da geht auf und nieder! Das ist ein schlechter Widder —, alles, was kein richtiger Widder ist, muß niedergestoßen werden, wozu hätte ich denn sonst meine Hörner?'" Er setzte sich in Positur, maß den Abstand, … rannte … bums …! Voller Selbstbewußtsein und tief überzeugt von dem Endgültigen und Nützlichen seines Tuns richtete der Widder seine Aufmerksamkeit wieder auf andere Dinge. —

Und die Waage? Eine Zeitlang ließ sie keinen Zweifel daran aufkommen, daß sie nichts als ein gelbkupferner, schlapper Apparat war. Sie betrug sich völlig wie ein ganz gewöhnlicher Erdengegenstand mit dem überzeugenden Gequietsche ihrer Gelenke und dem heftigen Geschaukel ihrer Schalen. Aber bald verschwanden diese unbeherrschten Äußerungen, ihre wahre Natur kam wieder zum Vorschein, und ein Gleichmaß der Bewegungen wurde sichtbar. Langsam aber sicher gewann ihr Weltenrhythmus wieder vollständig die Oberhand. Nur schien die Bewegung jetzt etwas energischer als zuvor.

Der Widder hatte indessen ruhig gegrast. In seiner Vorstellung war alles ganz anders verlaufen, da war die Waage schon längst einen wohlverdienten Splittertod gestorben. Doch wahrhaftig: da sieht er das Ding wieder schwingen, als wenn es nie einen Widder gegeben hätte, der ihr doch deutlich genug zu verstehen gegeben hat, wie es sein muß! Da schießt ihm all sein Selbstbewußtsein in die Hörner, er mißt den Abstand …, rennt … enfin, l'histoire se repete I

Nun fragte der Weise: »Wer von den beiden ist wohl der Edlere? Der Widder, der seine eigenen Überzeugungen durchsetzt, mag es biegen oder brechen, oder die Waage, die alles zu verarbeiten sucht, was auch die Umstände ihr auferlegen mögen?"

Diesmal dauerte es sehr lange, bis sein Begleiter wieder sprach.

Aus dem leider vergriffenen Buch von
Frits Hendrik Julius:
"Die Bildersprache des Tierkreises und der Aufbau eines neuen Gemeinschaftslebens"
ISBN 3-88069-118-5

Und   H I E R   ein weiterer Auszug aus diesem Buch

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