Freitag, 4. März 2011

Ist Selbstliebe immer egoistisch?

Dr. Roberto Assagioli:
Arten der Liebe

Die erste Liebe ist Liebe zu sich selbst

Diese Bemerkung mag zu Überraschungen Anlass geben, da Liebe, die auf einen selbst gerichtet ist, gewöhnlich mit Egoismus, Geltungsbedürfnis oder Narzissmus gleichgesetzt wird. Diese Art der Selbstliebe existiert natürlich, sie ist aber nicht die einzige Art; hier, wie immer, muss die große Komplexität und Vielfalt des menschlichen Lebens in Betracht gezogen werden. Im Fall der Selbstliebe hängt alles davon ab, was wir an uns selbst lieben und wie wir es lieben. Es ist in der Tat Geltungsbedürfnis, wenn wir die egozentrischen und die trennenden Aspekte in uns lieben: das Verlangen nach Vergnügungen, Besitz und Herrschaft. Wenn wir aber das in uns lieben, was höher und das Beste ist, das, was wir wesentlich sind, wenn wir unsere inneren Möglichkeiten des Wachstums, der Entwicklung, der schöpferischen Fähigkeiten und der Gemeinschaft mit anderen lieben, dann drängt uns diese Liebe, der aller Egoismus fehlt, ein Leben höherer Qualität zu leben. Diese Liebe ist dann nicht nur kein Hindernis, andere auf dieselbe Weise zu lieben, sondern vielmehr ein mächtiges Mittel, dies zu tun. Wie alle Arten der Liebe kann auch die Selbstliebe durch den Willen reguliert und geleitet werden . Die Liebe zu anderen Menschen wird durch ihren Gegenstand, ihr Objekt bestimmt.

Mütterliche Liebe

mag als die erste und fundamentale menschliche Beziehung betrachtet werden. In ihrer anfänglichen Form hat sie die Eigenschaft eines Opfers und zeigt die willige Hingabe der Mutter an Schutz und Sorge für ihr Kind, eine Hingabe, bei der die erforderliche Selbstverleugnung freudig akzeptiert wird. Das Wachstum des Kindes ist jedoch von der Entwicklung einer gesunden Unabhängigkeit begleitet, die den rein mütterlichen Aspekt der Liebe einer gründlichen Prüfung unterzieht. Ihre Hingabe und ihr Opfermut der frühen Tage der Beziehung können sich nun leicht in Beschlagnahme und Besitzenwollen verwandeln. Der Sohn oder die Tochter erkennt dies, vielleicht nur unbewusst, und nimmt es übel. Je besitzergreifender und anspruchsvoller die Liebe der Mutter ist, desto stärker ist die Rebellion des Kindes. Und umgekehrt, je hingebungsvoller die Liebe ist, desto stärker und tiefer ist die liebende Verbindung. Wieder kann der weise Gebrauch des Willens den ganzen Unterschied ausmachen.

Die väterliche Liebe

weist einen parallelen Verlauf auf, zeigt jedoch gewisse Unterschiede. Auch hier hat die grundlegende Liebe des Vaters zu seinen Kindern die Eigenschaft eines Opfers. Aber dieser anfängliche Eifer, die Kinder mit materieller und anderer Hilfe zu versorgen, macht später oft einem Drang Platz, seine Autorität zu behaupten und ihren Gehorsam zu verlangen. Es kann auch vorkommen, dass sich der Vater mit dem Kind derart identifiziert, dass er versucht, es nach seinem eigenen Bild zu gestalten, einem Bild, das oft nicht besonders empfehlenswert ist! In anderen Fällen mag er starken Druck auf sein Kind ausüben, das zu erreichen, was er selbst nicht erreichen konnte; das ist ein ungerechtes und gewöhnlich nicht zu verwirklichendes Verlangen. In den meisten Fällen ist das Ergebnis Rebellion; wenn sich das Kind jedoch unterwirft, geschieht es unwillig; und sein Gefühl der Enttäuschung kann nicht nur seine Entwicklung behindern, sondern auch die frühere liebende Beziehung schädigen oder sogar töten.

Die Liebe zwischen Mann und Frau

ist ein anderes Gebiet, in welchem viel semantische Verwirrung herrscht. Sie ist die Ursache häufiger, ich möchte sogar sagen, beständiger Missverständnisse und daraus folgender Konflikte. Manche Autoren nennen die Liebe zu einem Menschen des anderen Geschlechts „erotische Liebe“, aber die verschiedenen Bedeutungen des Wortes „erotisch“ machen es missverständlich. Erotik wird im gewöhnlichen Sprachgebrauch und häufig in der einschlägigen Literatur in einem rein sexuellen Sinn verstanden und manchmal sogar als ein Synonym für Pornografie benutzt. Andererseits betrachten einige Philosophen und Psychologen, die auf den Erosmythos und die Bedeutungen, die ihm die Griechen gegeben haben, zurückgehen, den Eros als die Anziehung, die ein Geschlecht auf das andere ausübt und ein Verlangen, sich mit der anderen Person auf allen Stufen, besonders auf der emotionalen, zu verbinden und zu vereinen. In Wirklichkeit ist die Liebe zwischen Mann und Frau eine Mischung von körperlicher, emotionaler, mentaler und spiritueller Anziehung in einem Verhältnis, das sich bei jeder Beziehung weitgehend unterscheidet und sich auch im Lauf der Zeit ändert. Das erklärt die großen Schwierigkeiten, die zwei Menschen beim gegenseitigen Verstehen und beim harmonischen Verbinden und Integrieren durchmachen. Daher die Leiden und Konflikte, die sich daraus ergeben. Die bekanntesten und allgemeinen Aspekte dieser Liebe sind leidenschaftliche Liebe, sentimentale Liebe und idealistische Liebe. Nicht weniger wichtig ist die Liebe, die sich auf intellektuelles Verstehen gründet und die aus geistiger (spiritueller) Gemeinsamkeit geboren wird, obwohl sie bei der Wahl eines Gefährten gewöhnlich nicht berücksichtigt wird.


Liebesbeziehungen, die anders sind

als die zwischen Menschen des entgegengesetzen Geschlechts. Hier finden wir brüderliche, altruistische und humanitäre Liebe. Obwohl diese durch ein Mitgefühl für menschliches Leid erweckt und verstärkt werden können, entstammen sie grundsätzlich einem Gefühl der wesensmäßigen Identität mit unseren Brüdern und Schwestern. In einigen Fällen, zum Beispiel der „franziskanischen Liebe“, schließt sie alle lebendigen Geschöpfe ein. Eine volle Darstellung dieser Form der Liebe enthält Sorokins Buch „The Ways and Power of Love“ und Martin Luther Kings Buch „The Strength to Love“ (dt.: „Kraft zum Lieben“).

Die unpersönliche Liebe, eine Liebe zu Ideen oder Idealen

Auch in ihr finden wir verschiedene Bestandteile und Aspekte. Die Faszination durch ein Ideal oder die Schönheit einer Idee gebären oft eine Hingabe und eine hochgradige Selbstaufopferung. Aber sie können auch zu Fanatismus und zu einer idée-fixe führen: ein Mensch kann von einer Idee oder einem Ideal derart besessen sein, dass er für alles andere blind, verständnislos und grausam denen gegenüber wird, die seine Idee nicht teilen oder sich ihr entgegensetzen.

'Karikatur' der Liebe

Es ist die abgöttische Liebe, die die Form einer blinden, fanatischen Verehrung der Idole der Zeit, der Bühnen- und Filmstars, der Sportgrößen, Diktatoren und anderer Führer annimmt.

Schließlich gibt es die Liebe zu Gott

oder zu dem, was man sonst als Bezeichnug für das Universale Wesen oder Sein vorziehen mag: dem höchsten Wert, dem kosmischen Geist, der höchsten Realität, im transzendenten wie im immanenten Sinne. Ein Gefühl der Ehrfurcht, der Verwunderung, der Verehrung und der Anbetung, begleitet von einem Drang, sich mit dieser Wirklichkeit zu vereinen, ist dem Menschen angeboren. Dieses Gefühl war in jedem Zeitalter und in jedem Land vorhanden und hat die vielen Formen der Verehrung gemäß den herrschenden kulturellen und psychischen Bedingungen geschaffen. Es erreicht bei den Mystikern seine Blüte, die die lebendige Erfahrung der Einheit durch die Liebe machen.

Aus Roberto Assagioli
"Die Schulung des Willens - Methoden der Psychotherapie und der Selbsttherapie" (Junfermann Verlag)

1 Kommentar:

  1. Dieses Posting würde jedem sehr helfen welcher dieses Posting lesen würde. Danke vielmals für das mitteilen eurer Gedanken.

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